STATEMENT
Um welche Zeit geht es bei Particolare? Um die mechanische, lineare Zeit, die mit Messinstrumenten quantifizierbar ist? Oder um die quantenmechanische, formbare Zeit, die sich durch Relativität und das Fehlen jeglicher Linearität auszeichnet? Particolare begibt sich in die Verstrickungen der mechanischen Zeit und der Quantenzeit. Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, verschiedene Arten der Wahrnehmung von Zeit zu erleben und zu reflektieren, wie sie unsere Realität prägen und verändern. Einzig Joseph Kosuth, dessen Werk den Versuch wagt, die Dinge objektiv zu denken, sträubt sich gegen die Struktur der Ausstellung und ist damit die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
DER MOMENT
Schon der Titel Particolare verweist auf die Einzigartigkeit und Besonderheit eines jeden Augenblicks, einer jeden Bewegung. Bewegung ist nicht nur ein ästhetisches Element der Ausstellung, sondern eine lebendige Kraft, die der Essenz der Kunst innewohnt. Besucherinnen und Besucher werden in Michelangelo Pistolettos Spiegelarbeiten, die das Bildhafte mit den sich stets verändernden Realitäten in Beziehung setzt, mit ihrem eigenen Abbild konfrontiert. Richard Hoecks und John Millers konzeptuelle Arbeit mit einer ihren Standort wechselnden Schaufensterpuppe eines kleinen Jungen oder die Skulptur von Angela Bulloch, durch die das plötzliche und zufällige Aktivieren des Mapping-Systems repräsentiert wird, bringen eine lebhafte Spontaneität und Rhythmus in die Ausstellung.
KONTEMPLATION
Aus dem bereichernden Dialog zwischen dem Vermessen und dem kreativen Schaffen entstehen neue Perspektiven auf Zeit. Bewegung wird zum roten Faden einer tiefen künstlerischen Erfahrung. In Erik Bulatovs Gemälde Lumières de Nuit werden erstmals die Wellen des Meeres und der Glanz ferner Städte eingefangen. Rob Puritts erweitert in seinem Werk May 17, 2024 (One Day) die Zeitskala, um den Sonnenaufgang und -untergang eines beliebigen Tages darzustellen. Ein Dramatischer Farbverlauf wird dabei an die Zeit angepasst. Die Serie I GOT UP von On Kawara ist wiederum die Betrachtung eines sich über mehrere Jahre erstreckenden Kalenders. Mit sparsamsten Mitteln und beeindruckender visueller Eleganz schafft Kawara eine komplexe Reflexion über Zeit, Existenz und die Beziehung zwischen Kunst und Leben.
DIE ZEIT DER UHREN TRIFFT AUF DIE ZEIT DER KÜNSTLER
Die Ausstellung Particolare entführt Besucherinnen und Besucher in eine Welt, in der die Zeit umkehrbar und elastisch ist, in der jeder Moment eine Gelegenheit bietet, zu kreieren und zu entdecken. In dieser Dynamik schaffen die Künstlerinnen und Künstler eine eigene Zeit, in der die Sekundenzeiger unserer Uhren scheinbar immer neue Wege gehen. In den Arbeiten von Saâdane Afif und Alicja Kwade, die sich auf humorvolle Weise mit der Subjektivität von Zeit und Raum auseinandersetzen, werden die Zeiger der Uhr buchstäblich zum Kunstwerk. Die digitalen Zähler von Tatsuo Miyajima, die beweglichen Skulpturen von Žilvinas Kempinas und Wim Delvoyes L’ordre des choses, das Werke anderer Künstler wie Killing Time von Alighiero Boetti einbezieht, erweitern die künstlerische Bandbreite von Particolare bis in den Bereich der Kinetik.
Der Kursalon selbst erwacht zum Leben, wenn Performer ihn dem Publikum überlassen, nachdem die 100 Metronome von György Ligetis berühmtem Poème Symphonique zum Klingen gebracht wurden, während im prachtvollen Saal wiederum Performances und Vorträge stattfinden. Particolare lädt uns zu einer Reise durch die Zeit ein, die unsere künstlerische Sensibilität schärft. Beim Betreten der Ausstellung nimmt der Künstler Gianni Motti die Besucherinnen und Besucher mit auf einen ungewöhnlichen Spaziergang durch den Teilchenbeschleuniger des CERN, der unser Wissen über das Universum erweitern soll. Die Quantenzeitlichkeit und die unbeständige Natur der Dinge werden von Libby Heaney durch neue, nicht-lineare und emotionale Erzählformen ergründet. Besucher treffen auf Vera Molnárs Einsatz von Algorithmen, der von der Instabilität bis zur mathematischen Präzision reicht. Dieser bahnbrechende Ansatz kreiert visuelle Kompositionen auf eine Weise, die von Hand unmöglich zu erschaffen sind, und spielt mit Zeitlichkeit. Beim Verlassen des Kursalons in Richtung der Gärten kann sich das Publikum in einer labyrinthischen Skulptur von Rashid Al Khalifa verlieren.
PEROFRMANCE-PROGRAMM
Particulare fördert eine symbiotische Beziehung von Performances, Ausstellung und neuen Technologien. Das Publikum erlebt ein Programm an der Schnittstelle von Klang, Bewegung und Zeit, mit Werken aus einer Vielzahl historischer Epochen und künstlerischer Perspektiven. Das Live-Programm, das in Zusammenarbeit mit Klangforum Wien kuratiert wurde, hebt hervor, wie verschiedene Komponisten, Performer und Künstler eigenwillig mit dem Konzept von Bewegung in ihrem Schaffen umgehen. Von den Arbeiten der Komponisten György Ligeti und Erik Satie bis hin zu einzigartigen, von der Tänzerin Anna Abalikhina angeleiteten Choreografien werden Werke geschaffen, in denen die Tiefe Verbindung zwischen Tanz, Raum und Kunstwerk betont wird.
Es gibt heutzutage ein allgemein geteiltes Gefühl in der Kunstwelt, dass sich das Museum, wie wir es jetzt kennen, in den nächsten Jahren stark verändern wird. Wir alle fühlen es, aber niemand weiß, wie dieses Museum aussehen wird. Dasselbe Gefühl betrifft alle Ausstellungsformate und -orte: Kunstmessen, Biennalen, Kunsthäuser, Galerien, Sammlerhäuser, öffentliche Räume etc. Wir wissen, dass sich diese Dinge in den nächsten Jahren radikal weiterentwickeln werden. Aber wie? Das können wir nicht wissen, aber wir können neue Ansätze erproben, neue Wege einschlagen – gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern.MARC-OLIVIER WAHLER Wissenschaftlicher Berater, Particolare